Gilgamesch NZ

Nürtinger Zeitung v. 9. Febr. 2015

In der Urzeit des menschlichen Bewusstseins

Der Nürtinger Chor „coro per resistencia“ heimste für die Aufführung des Oratoriums „Das Gilgamesch-Epos“ mit seinen Partnern minutenlang Applaus ein

Von Heinz Böhler

NÜRTINGEN. Es steht nicht obenan auf den Spielplänen der großen Musikhäuser dieser Welt. Vielleicht hat sich eben darum, zumindest aber trotzdem, der Nürtinger Chor „coro per resistencia“ des dreiteiligen Oratoriums „Das Gilgamesch-Epos“ von Bohuslav Martinů angenommen.

Da sich Chorleiter Felix Schuler-Meybier ebenso wie seine Mitstreiter darüber im Klaren war, dass ein solches Projekt für das Nürtinger Gesangensemble nicht allein zu stemmen gewesen wäre, tat man sich für die Aufführung am vergangenen Samstag in der bis auf den letzten Platz besetzten Nürtinger Johanneskirche mit dem Münchner Regenbogenchor und der Munich International Choral Society sowie den Musikern des Stuttgarter Orchesters Musica Viva zusammen.

Musica Viva, ebenfalls unter Schuler-Meybiers Leitung, bereiteten die Zuhörer mit der „Unanswered Question“ von Charles Ives und dem „Adagietto“ aus Gustav Mahlers fünfter Symphonie auf die mythisch-bewegte Stimmung des darauf folgenden Zeitsprungs in die Urzeit menschlichen Bewusstseins vor. Als Solisten konnten die Sopranistin Fanie Antonelou, Johannes Kaleschke (Tenor), Johannes Mooser (Bariton) und Bassist Jens Paulus gewonnen werden.

Als Wiege der Menschheit gilt das Gebiet um Euphrat und Tigris, das fruchtbare Zweistromland im heutigen Irak, wo vor 5000 Jahren die Mauern der Stadt Uruk der angrenzenden Wildnis trotzten. Um deren angeblichen Erbauer Gilgamesch ranken sich Mythen, die vor Zeiten einer, der die sumerische Keilschrift beherrschte, zu jenem Epos zusammenfasste, das heute als „Gilgamesch-Epos“ eines der ersten schriftlichen Zeugnisse der Menschheitsgeschichte darstellt.

Gilgamesch, Beherrscher der Stadt, droht übermütig zu werden. Deshalb stellt ihm die Göttin ein Wesen entgegen, von ihr selbst aus Lehm geformt, Leben eingehaucht in einsamer Öde: Enkidu! „Nicht kennt er Menschen noch Land. Mit den Gazellen pflegt er im Garten zu weiden.“ Eine Frau lässt ihn die Unschuld verlieren, das Paradies (die Herde) mit der Zivilisation vertauschen, nachdem sich die Gewalten – Gilgamesch und Enkidu – im Kampf die Waage hielten und Freundschaft schlossen.

Neben dem Chor (das Volk und Kommentator des Geschehens) vertritt als Erzähler Johannes Hitzelberger die Position des über den Dingen sich bewegenden Autors. Johannes Moosers Bariton verleiht den von Gilgamesch ausgestandenen Gefühlen und Ängsten die gebotene Fülle, und Fanie Antonelous Sopran verleiht den Verlockungen des Weibes an der Quelle und der Zivilisation jenes verführerische Moment, das wir auch heute noch aus der kommerziellen Werbung – in variierten Formen, versteht sich – zur Genüge kennen, und des Chores geballte Kraft lässt dem Kind der Wildnis, eben Enkidu, fast keine Wahl.

Mehr als 60 Stimmen aller Lagen peitschen die Kämpfer an und begleiten nach Enkidus Tod den verzweifelt trauernden Helden, bis es diesem im dritten Akt gelingt, den Geist des Toten zu beschwören und ihn nach dem Wesen des Jenseits zu befragen. „Ich sah“ und „Ja, ich sah“ ist alles, was sich dessen von Jens Paulus’ Bass belebten Lippen noch entlocken lässt, bevor in einem leiser werdenden Echo des Chores diese dem Lebenden mitgeteilte Erkenntnis des schwindenden Geistes allmählich verebbt.

Sekunden nach dem Verklingen des letzten musikalischen Lautes löste sich auch die im Publikum durch die geniale musikalische Dramaturgie des Komponisten und deren, man darf das so sagen, kongeniale Umsetzung der Akteure angestaute Spannung. Minutenlang anhaltender Beifall und ein Extra-Applaus für Solisten und Felix Schuler-Meybier sowie für die beteiligten Ensemble als solche ließen einen denkwürdigen Konzertabend ausklingen, der sich in der Reihe der regelmäßig für Aufsehen sorgenden Konzerte des Nürtinger Chores und seiner befreundeten Klangkörper, mit denen er das Konzert am 1. März auch in München aufführen wird, sicher nicht hinten einordnen muss.

 

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