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„A Child of Our Time“

Eine Mahnung zu Toleranz,
Humanität und Gerechtigkeit

70 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führt der coro per resistencia in Kooperation mit amnesty international in der Nürtinger Stadtkirche  Michael Tippetts Anti-Kriegs-Oratorium „A Child of Our Time“ auf. Karten sind ab sofort erhältlich.

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Tippett hat dieses Werk in den Jahren 1939 bis 1941 aus Protest gegen Diktatur und Rassismus geschrieben. Er plädiert leidenschaftlich für eine Versöhnung, die mit der Akzeptanz der eigenen
Schattenseiten beginnen muss. Wie wichtig es für eine Welt ohne Gewalt und Unrecht nach wie vor ist, sich aktiv für die Menschenrechte einzusetzen, wird Dr. Rainer Huhle vom Nürnberger Menschenrechtszentrum vor Konzertbeginn referieren.
Das „Kind unserer Zeit“, das Michael Tippetts Werk den Namen gab, ist Herschel Grynszpan, der 1921 in Hannover geborene Sohn polnischer Juden. Die Eltern des Jungen wurden Ende Oktober 1938 mit ca. 15.000 Juden von der nationalsozialistischen Regierung nach Polen abgeschoben, von den polnischen Behörden jedoch zurückgewiesen und mussten sich unter erbärmlichen Bedingungen im Niemandsland zwischen Deutschland und Polen aufhalten. Bei dem Versuch seinen Eltern zu helfen, schlug dem 17-Jährigen kalte Ablehnung entgegen, worauf er aus Verzweiflung den Legationsrat der Deutschen Botschaft in Paris erschoss. Dieses Attentat löste die Pogrome vom 9. November 1938 aus.
Tippett orientiert sich mit seinem Werk an der barocken Oratorientradition und übersetzt sie mit den Mitteln seiner Tonsprache in die Jetztzeit. Wie bei den großen Oratorien und Passionen treibt ein Erzähler die Handlung voran, die Solisten stellen einzelne handelnde Personen dar oder meditieren das Geschehen, der Chor übernimmt die Funktionen des Kommentators und der Volksmenge. Statt der traditionellen Choräle verwendet Tippett Spirituals und verleiht damit einer weiteren unterdrückten Menschengruppe eine Stimme.
„A Child of Our Time“ ist eine Mahnung zu Toleranz, Humanität und Gerechtigkeit, die in dieser Eindeutigkeit und universelle Verständlichkeit in der neueren Musik nur wenige Gegenstücke hat.

Karten sind ab sofort im Stadtbüro der Nürtinger Zeitung, Am Obertor 15, Tel. 07022 9464-150, www.ntz.de/tickets
sowie unter karten@coro-nuertingen.de erhältlich.

Michael Tippett
„A Child of Our Time“
Oratorium für Soli, Chor und Orchester

Sonntag, 17. Juni 2018, 19.30 Uhr
Ev. Stadtkirche St. Laurentius Nürtingen

 

Musik als Botschafterin der Hoffnung

Der coro per resistencia brachte in der Nürtinger Johanneskirche Brittens „Saint Nicolas Cantata“ zur Aufführung

Der coro per resistencia, das ensemble flessibile, Dirigent Fabian Wöhrle und Tenor Roger Gehrig in Aktion. Foto: Erika Kern

NÜRTINGEN. Francis Poulencs Konzert für Orgel, Streicher und Pauke in g-Moll und Benjamin Brittens „Saint Nicolas Cantata“ op. 42 standen auf dem Programm des Konzerts des coro per resistencia am Samstag in der Kirche St. Johannes. Instrumental das eine, für gemischten Chor, Tenor, Klavier, Streicher, Schlagzeug und Orgel das andere. Zwei gewaltige, klangstarke und dramatische Werke, die begeisterten. Die Leitung dieses eindrücklichen Konzerts hatte Fabian Wöhrle.

1938 wurde Poulencs Orgelkonzert, eine Auftragsarbeit, in Paris uraufgeführt, 1948 Brittens „Saint Nicolas Cantata“, komponiert zum 100-jährigen Schuljubiläum des Lancing College, einer Privatschule in der gleichnamigen Stadt an der Südküste Englands, deren Schutzpatron der heilige Nikolaus war.

Beide Daten markieren gravierende Zäsuren. 1938 wurde mit der Ausstellung „Entartete Musik“ die Moderne verfemt und verfolgt. Anders 1948. Der Zweite Weltkrieg und das NS-Regime waren vorbei. Musik der Moderne konnte in Deutschland wieder aufgeführt werden. Musik machte Hoffnung, war Freiheit. Auch vor diesem Hintergrund bekam die Aufführung Gewicht und Bedeutung.

Orgel und Orchester liefern sich expressive Dialoge

In seinem mächtigen einsätzigen Orgelkonzert verarbeitet Poulenc Musikmaterial aus unterschiedlichen Zeiten. Monumental und scharf in den Raum gesetzte Anfangsakkorde der Orgel mit vollem Werk erinnern an eine Toccata oder eine Fantasie von Bach. Bedrohlich wirkende Schläge der Pauke als spannungssteigerndes Soloinstrument, Brechungen, harmonische Spannungen. Expressive Dialoge zwischen dem schmal besetzten, durchsichtig und doch kraftvoll musizierenden ensemble flessibile und der Orgel. Klangfarbenreichtum.

Überraschungsreiche Tempiwechsel, kontrastreiche Themen. Statische Klangflächen gegen vorwärtstreibende Klangfolgen. Mitreißende Stimmungsvielfalt: lyrisch, freudig, klagend und jubelnd. Schwelgerische Streicherkantilenen, gedehnte Orgelpunkte. Immer wieder die Atmosphäre Bachscher Orgelmusik. Anklänge an Jahrmarktsmusik bringen pulsierendes Leben ins Spiel. Die reich und effektvoll registrierte Orgel spielte eindrucksvoll mit Klangfarbe, Tiefenraum und Dynamik. Das alles erzeugt Stimmungen beim Hörer, nimmt ihn mit in Poulencs Musikwelt. Sehr eindringlich interpretiert von den beiden Solisten Michael Spors (Orgel), Johannes Reischmann (Pauke) und dem ensemble flessibile.

Was bei Poulenc ein Drama ohne Worte war, bekommt bei Britten durch den Wortsinn eine klare Richtung. Der Librettist Eric Crozier hat eindrückliche Szenen aus dem Leben des heiligen Nikolaus zu dramatischem Geschehen verdichtet: Geburt des Nikolaus, Gelübde, sein Leben Gott zu weihen, Überfahrt nach Palästina, Bischofswahl in Myra, Gefängnishaft, große Wundertaten und sein Weggang ins Jenseits. Der 35-jährige Britten, ein Förderer der Laienmusik, verklanglicht das bildreiche Geschehen für Amateurmusiker, Schulchor und -orchester des Lancing College, unterstützt von fünf Berufsmusikern. Die Anforderungen an einen Laienchor sind durchaus beachtlich. Der coro per resistencia mit seinen etwas mehr als dreißig Sängerinnen und Sängern war ihnen gewachsen – als gemischter Chor, in den Passagen für Männer- oder Frauenstimmen oder in A-cappella-Partien. Den von Britten vorgeschriebenen Gallery-Chor, einen Kinderchor, besetzte Wöhrle mit fünf Sängerinnen. Versiert und intonationsrein sangen Susanne Dahmann, Gesine Hofinger, Caroline Oestreich (Solo als junger Nikolaus), Christine Plattner, Ursula Schaal.

Britten arbeitet mit einem klangfarbenreichen Instrumentarium, Streicher, diversem Schlagzeug, einem Klavierduo und Orgel. Seine Cantata hat oratorische Züge: rezitativartige und ariosoartige Partien für Tenor (Nikolaus) wechseln mit Chorszenen voller Emotion und Spannung. Zwei Choräle kennzeichnen dramaturgisch wichtige Stellen.

Vokaler Klangkörper voller Begeisterung und Energie

In Roger Gehring hatte Wöhrle einen verlässlichen Tenor, der mit seiner ausdruckstarken, volumenreichen, nie theatralisch überzogenen Stimme den Bedeutungsgehalt seiner Partien überzeugend herausarbeitete. Mit dem coro per resistencia hatte Wöhrle zudem einen vokalen Klangkörper voller Begeisterung und Energie und mit dem ensemble flessibile ein verlässliches Orchester, feinsinnig musizierend und die unterschiedlichen Charaktere der Teile präzise herausmodellierend.

Nikolaus, die Titelfigur, kommt in der Introduktion, markiert durch die weit ausgespannte cantabile Solopartie der ersten Violine (Eduard Sonderegger) und dem Gleichmaß der Paukenschläge gleichsam aus der Zeitenferne. Seine Tugenden wollen wiedergefunden werden. Neun Teile voll musikalischer Dichte, atmosphärenreich, mit einer breiten Palette an musikalischen Mitteln, die das Geschehen hörbar machen. Oszillierend zwischen Harmonien und verstörenden Disharmonien. Rhythmisch betonte und lyrisch sich entwickelnde Passagen, expressive Schlagzeugphasen, flirrende Klavierklänge. Zusammen mit dem Gallery-Chor, der von der Orgelempore her einfällt und meist mit der Orgel zusammen erklingt, den Instrumentalisten und dem Chor schafft der Komponist eine Art Raumklanginstallation. Sie umgibt den Zuhörer und zieht ihn in die Musikerzählung immer mehr hinein: in das Bedrohliche, das Exaltierte, das Bestürzende, das Grässliche einer Hungersnot und das Wunderbare der Wiederbelebung dreier geschlachteter und eingepökelter Knaben; in die Düsternis des Todes und die Hoffnung auf eine gnädige Aufnahme im Himmel, in das Beschützende und Hoffnung Verkündende auch.

Das Werk endet mit einem kraftvollen Hymnus und einem hoffnungsvollen Amen. Ein mutmachender, tröstlicher Schluss, voller Zuversicht. Kurzes Innehalten – dann großer Beifall.

Helmuth Kern, Nürtinger Zeitung v. 6.12.2017